Arbeitskräftemangel Pflege

Arbeitskräftemangel: Jetzt kommen die neuen Gastarbeiter

Vor mehr als 50 Jahren warb Österreich männliche Arbeitskräfte aus der Türkei und Ex-Jugoslawien an. Jetzt werden vor allem Frauen aus Südamerika oder Nordafrika geholt. Das ist erst der Anfang, sofern die FPÖ das Experiment nicht stoppt.

„Käsekrainer“, müht sich Yoselin Brito mit dem Namen ihrer österreichischen Lieblingsspeise ab. Die 28-Jährige aus Riohacha-La Guajira an der karibischen Nordküste Kolumbiens kam vor drei Monaten mit fünf weiteren Landsleuten nach Graz in ein Geriatrisches Zentrum. Nach der Arbeit pauken die Pflegefachkräfte im Studentenheim Deutsch. Der einzige männliche Kolumbianer in der Gruppe, der 29-jährige Nicolas Pereira aus San Gil, bevorzugt „Wiener Schnitzel“ mit einem „Gösser“ dazu.

Ein Wort sprechen alle fehlerfrei aus, obwohl es ein wahrer Wortdreimaster ist: „Arbeitsbedingungen“. Die seien in den kolumbianischen Spitälern hart. Die Normalarbeitszeit beträgt 48 Wochenstunden bei zwei Wochen Urlaub. Viele bekämen jedoch nur Zeitverträge und würden 60 Wochenstunden ohne Urlaubsanspruch arbeiten. „Wenn ich Urlaub nehmen wollte, musste ich kündigen oder einen Kollegen bezahlen, damit er für mich einspringt“, sagt Brito. Der Lohn in Kolumbien: 600 Euro. In Österreich: 2400 Euro brutto als Pflegeassistent, 3000 Euro brutto als Diplompflegekraft.

Von der Pflege bis zum Bau

Ein besseres Leben. Das war bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren Motivation für insgesamt 265.000 Menschen aus Ex-Jugoslawien und der Türkei, die als sogenannte Gastarbeiter nach Österreich geholt wurden. Heute fegt die Demografie wieder ganze Branchen leer. Jährlich gehen Zigtausende Menschen mehr in Pension als junge Menschen auf den Arbeitsmarkt nachrücken.

Besonders stark klafft die Lücke in der Pflege. Bis 2030 fehlen laut Branchenexperten bis zu 100.000 Pflegerinnen und Pfleger. Um die Lücke zu schließen, müsste ein erklecklicher Teil der Berufseinsteiger Pflegekraft werden. Das ist völlig unrealistisch. Deswegen sind Seniorenheime und Landeskrankenhäuser treibende Kraft hinter den globalen Anwerbeaktionen. Über Agenturen holen sie systematisch Menschen aus Südamerika, Nordafrika und Asien. Auch Konzerne wie Porr rekrutieren Bauarbeiter oder Mechaniker nun verstärkt aus diesen Weltregionen.

Warum ausgerechnet Tunesien oder Kolumbien? Werden sich die neuen Zuwanderer besser integrieren als etwa türkische Gastarbeiter und deren Kinder und Enkel? Und wieso braucht es Arbeitskräfte aus Übersee, wenn gleichzeitig 320.000 Menschen in Österreich auf Jobsuche sind?

Was Kolumbien und Österreich verbindet

In den 1960er-Jahren schloss Österreich offizielle Anwerbeabkommen mit Jugoslawien und der Türkei ab. Heute läuft die Arbeitskräftesuche niederschwelliger über private Agenturen. „Talent&Care“ und „MedBest“ heißen zwei Platzhirsche, die bereits Hunderte Pflegekräfte aus Kolumbien an Landeskrankenhäuser oder große Heimbetreiber wie SeneCura vermittelt haben. Der Mitbegründer der Talent&Care GmbH, Unternehmensberater Josef Missethon, startete 2015 mit einem Ausbildungsprojekt für Flüchtlinge. 2018 verlagerte er seine Talentesuche auf Spanien. Als auch dort die Arbeitskräfte knapp wurden, nahm er die Arbeitsmigration aus den früheren spanischen Kolonien genauer unter die Lupe. Und siehe da: Kolumbien präsentierte sich als Land mit hohem Ausbildungsniveau in der Pflege und gleichzeitig

hoher Arbeitslosigkeit auch in dieser Branche. Missethon startete mit einem kolumbianischen Partner Anwerbeaktionen. Wer aufgenommen wird, durchläuft einen Deutschkurs noch in Kolumbien und wird bei Behördenwegen bis hin zur Anerkennung der Ausbildung in Österreich unterstützt. Diese „Nostrifizierung“ ist Basis für den Aufenthaltstitel: die Rot-Weiss-Rot-Card.

Der Gründer von MedBest, Arno Krzywon, stattete erst Spitäler mit technischem Equipment aus und wollte dann auch den wachsenden Personalbedarf stillen. Er wählte Tunesien als Schwerpunktland. „Das Land ist per Flugzeug nicht weiter entfernt als Kreta oder Lissabon. Es hat eine französische Ausbildungstradition. Und durch die Mehrsprachigkeit aus Arabisch, Französisch und oft Englisch tun sich Bewerber auch beim Deutschlernen leichter.“ Wegen der hohen Jugendarbeitslosigkeit streben junge Menschen verstärkt in die Pflege, weil sie sich dadurch den Sprung nach Europa erhoffen, sagt er. Ähnliche Bedingungen sieht Krzywon in Marokko, Ägypten und Libanon gegeben. „In diesen Ländern bauen wir gerade Strukturen auf.“ Missethons Firma weitet ihre Aktivitäten derzeit auch auf Ecuador und Peru aus.

Ausbeutung oder sinnvolle Ergänzung

Wie ethisch vertretbar ist es, wenn reiche Länder wie Österreich verstärkt junge Talente aus Schwellenländern abziehen? Beide Agenturen versichern, sich an die „Black List“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu halten. Diese regelt, in welchen Ländern es vertretbar ist, Gesundheitspersonal abzuwerben und in welchen eine Unterversorgung der lokalen Bevölkerung drohen würde.

Die Steiermärkische Krankenanstaltengesellschaft hat 16 kolumbianische Diplompflegerinnen geholt, im Juli treffen die ersten sechs Tunesierinnen am Universitätsklinikum Graz ein. Bis 2025 soll die Zahl der Pflegerinnen aus diesen oder anderen Drittstaaten auf 150 bis 200 ansteigen – das wären am Klinikum bis zu zehn Prozent des Diplompflege-Personals. „Wir sind in diesem Bereich derzeit um elf Prozent unterbesetzt. Diese Männer und Frauen sind eine wichtige Ergänzung und Entlastung des bestehenden Pflegepersonals“, sagt die Leiterin des internationalen Recruitings in der AGES, Christina Grünauer-Leisenberger. Die 33-jährige Stefanie Roa Herrera aus Bogota arbeitet seit zwei Wochen im Landesspital Graz. Wenn sie ausreichend Deutsch gelernt hat, um Visiten abzuhalten, steigt Roa Herrera von der Pflegeassistenz in die Diplompflege auf. Dazu gehört dann auch ein Grundverständnis für steirischen Dialekt.

Osteuropa will seine Leute zurück

Dass Firmen mittlerweile Personal rund um den Globus suchen, hat einen simplen Grund: „Der EU-Arbeitsmarkt ist so gut wie leer gefegt“, sagt Julia Moreno-Hasenöhrl. Sie ist Koordinatorin der Fachkräftesicherung in der Wirtschaftskammer und sucht derzeit in sechs Schwerpunktländern nach Arbeitskräften für heimische Betriebe: Albanien, Brasilien, Kosovo, Indonesien, Nordmazedonien und Philippinen. Über den viel zitierten „IT-Experten“ hinaus hat sich die Suche längst auf Handwerker, Elektrotechniker, Köche, Kellner bis hin zu Lkw-Fahrern ausgeweitet.

Seit der EU-Osterweiterung 2004 und 2007 fischte die heimische Wirtschaft im Arbeitskräftepool Osteuropas. Doch Tschechen, Ungarn, Slowaken, Rumänen bleiben immer öfter aus. Zum einen sind die Löhne in all diesen Ländern deutlich angezogen. Gleichzeitig überaltert die Gesellschaft dort noch rascher als in Österreich. Um den eigenen Arbeitskräftemangel zu lindern, werben die Länder nun ihrerseits in Westeuropa um die Rückkehr von Landsleuten.

Das bringt auch eine Säule des heimischen Pflegesystems ins Wanken: Die 24 Stunden-Betreuung. Kamen die Frauen in den 2000er-Jahren zunächst aus der Slowakei, verlagerte sich der Schwerpunkt auf Rumänien. Doch auch hier fehlen inzwischen Pflegekräfte. Deswegen holt Rumänien nun selbst Pflegerinnen und andere Fachkräfte aus Asien – von den Philippinen über Sri Lanka bis Nepal, Indien und Pakistan. 100.000 Arbeitsvisa vergab das Land 2022 an Nicht-EU-Bürger.

Profil vom 07.06.2023 | Clemens Neuhold

Zurück zur Beitragsübersicht
Talent & Care Fachkräfte-Recruitment GmbH
Hietzinger Hauptstraße 35/2
A-1130 Wien